Von Peter Schuster, aus „Zeitreisen”
„In den 30er Jahren wurden Mitglieder, die soeben noch geachtet waren, aus der Mitgliederliste des Zirkels gestrichen. Wir stehen heute fassungslos vor den Verirrungen und suchen Erklärungen.
Wie konnte ein ganzes Volk von diesen Fanatikern überwältigt werden?
Nach 1945 redete und schrieb im Magischen Zirkel keiner über diese Vergangenheit. Haben sie, die passiv oder aktiv dabei waren, Scham und Reue empfunden? Aber auch wir Jüngeren fragten nicht. Es war uns, die am Ende der Hitlerdiktatur 10 oder 12 Jahre alt waren, nicht gegenwärtig, was im deutschen Namen, auch im Namen des Magischen Zirkels, geschehen war.”1
Die ZDF-Serie „Unsere Mütter – unsere Väter” hat die Verstrickungen unserer Eltern- und Großeltern während des Dritten Reichs beeindruckend aufgezeigt. Der Fernsehfilm erinnert an das Jahr 1933, in dem vor 80 Jahren die Herrschaft einer menschenverachtenden Diktatur in Deutschland begann.
Während des MZvD-Historikertreffens 2012 wurde intensiv über den MZ in der Nazi-Zeit und den damaligen Präsidenten Helmut Schreiber diskutiert. Unterstützt durch den MZvD-Präsidenten Eberhard Riese bildete sich eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Bernhard Schmitz, die die damaligen Vorgänge aufarbeiten soll.
Dieser Beitrag will an die verfemten und verstoßenen jüdischen Zauberer erinnern, die Frage nach der Verantwortung des MZ stellen und die Ortszirkel zur Beschäftigung mit ihrer Geschichte anregen. In einer ersten (zu ergänzenden und zu korrigierenden) Aufstellung sei an die 1936 ausgeschlossenen Mitglieder sowie an die dem MZ eng verbundene Familie Kroner und Michel Seldow, Ehrenmitglied des MZ Berlin, erinnert:
Die Entwicklung des Magischen Zirkels und die Ausstoßung der jüdischen Mitglieder aus der Gemeinschaft des MZ können nur vor dem Hintergrund - der politischen Entwicklung verstanden und beurteilt werden. Nachdem Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, begann der Abbau der demokratischen Strukturen und der Menschenrechte. Im März 1933 -beschloss der Reichstag, Hitler auch die -gesetzgebende Gewalt zu übertragen. Innerhalb weniger Monate wurden politische Gegner, Einzelne und Gruppen, verboten und verhaftet. Zwecks besserer politischer Kontrolle mussten sich Vereine in neue Verbände eingliedern oder sie wurden verboten und aufgelöst. Auf allen Ebenen galt das Führerprinzip, d.h. Vorstände wurden nicht mehr gewählt, sondern von oben eingesetzt.
In der 1. Verordnung zum Berufsbeamtengesetz2 wurde der „Arier” definiert: „Als nicht arisch gilt, wer von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist.“ Das Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935 unterschied Reichsbürger und Staatsangehörige. Die vollen politischen Rechte als Reichsbürger hatten nur „deutschblütige“ Staatsangehörige. „Juden” konnten nicht Reichsbürger sein. „Jüdische Mischlinge” besaßen zunächst auch die Rechte eines Reichsbürgers. Aber das alles war nur der Auftakt zu einem grausamen Finale. 1938 mussten Juden ihre Pässe abgeben. Nach dem Pogrom im November 1938 („Reichskristallnacht”) wurde jegliche jüdische Geschäftstätigkeit verboten. 1942 begann die systematische Vernichtung der Juden.
Der Magische Zirkel stand bald nach der Machtübernahme vor der Entscheidung, sich aufzulösen oder sich in eine der von den Nazis vorgegebenen Organisationsstrukturen einzugliedern. Helmut Schreiber verhandelte als Lösung die korporative Zuordnung zur Reichsfachschaft Artistik (RFA)3. Die RFA als Teil der Reichstheaterkammer diente der Gleichschaltung des gesellschaftlichen Lebens mit dem Ziel, gegen die NSDAP gerichtete Aktivitäten zu verhindern. Mit dieser Lösung mussten auch die von den Nazis gesetzten Regeln übernommen werden. Die Vorstände des MZ und der OZ waren nicht mehr zu wählen, sie wurden gemäß dem Führerprinzip von oben eingesetzt. So verfügte der Vorsitzende der Reichsfachschaft Artistik im Juni 19364, dass die Geschäftsstelle des MZ von Hamburg nach Berlin zu verlegen und Helmut Schreiber der neue Präsident sei. Schreiber nutzte seine Befehlsgewalt nach unten zurückhaltend aus, die Bestellung der OZ-Leiter erfolgte weitgehend einvernehmlich. Eine Ausnahme bildete der Ortszirkel Wien. Schreiber löste nach dem Anschluss Österreichs 1938 die Zauber-Vereine in Wien auf, bildete einen einheitlichen OZ und bestimmte den neuen Vorstand.5
Der verstorbene Hamburger Zauberhistoriker Dieter Waldmann analysierte 2003 die Zeitschrift MAGIE in den Jahren, als Schreiber Schriftleiter war6. Er kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass an keiner Stelle antisemitische Äußerungen oder Feindseligkeiten gegenüber Kriegsgegnern zu finden sind. Und trotzdem konnte sich der MZ nicht der NS-Judenpolitik entziehen. Der Druck auf die jüdischen Zauberer im Magischen Zirkel verlief parallel zur Judenpolitik der Nazis, die durch Gesetze und Verordnungen rechtlich abgesichert und staatlich durchgesetzt wurde. Das Reichsbürgergesetz von 1935 verpflichtete auch den MZ, keine jüdischen Mitglieder mehr zu haben. Alle Mitglieder des MZ mussten in einem „statistischen” Fragebogen angeben, ob sie „Deutscher Reichsbürger” im Sinn des Gesetzes waren und welcher Religion sie angehörten. Mitglied konnte also nur bleiben, wer arisch oder „Mischling” war. Durch die Fragebogen-Aktion reduzierte sich die Zahl der Mitglieder von ca. 13707 auf ca. 4008. Die Auswanderung der jüdischen Mitglieder begann zögernd bereits ab 1933. In jüdischen Kreisen hofften viele, dass sich das wieder beruhige. Mit dieser trügerischen Ruhe war es spätestens 1935 vorbei. Nur wenige blieben in Deutschland, so auch Günther Dammann und die Familie Kroner. Günther Dammann und Meta Kroner wurden im KZ ermordet.
Die Mehrzahl der Bevölkerung war mit der Politik Hitlers einverstanden. Das galt wohl auch angesichts des seit Jahrhunderten in Deutschland und Europa latent bis offen vorhandenen Antisemitismus zumindest in den ersten Jahren für die NS-Judenpolitik. Als ab 1938 das kriminelle Ende dieser Politik sichtbar wurde, betonten die Apparatehändler Horster9 und Klingl10 noch in Anzeigen, dass ihre Geschäfte seit Jahrzehnten „arisch” geführt würden. Sie müssen ihre Kunden wohl entsprechend eingeschätzt haben.
Viele Deutsche zogen sich auf einen inneren Widerstand zurück. Den gab es offensichtlich auch im Magischen Zirkel. Unter den rund 1.000 MZ-Mitgliedern, die 1936 ihren statistischen Bogen nicht zurückgaben, waren sicher viele, die auf diese Weise protestierten. Hinweise auf Proteste sind auch dem in der MAGIE veröffentlichten Bericht über die 23. Hauptversammlung zu entnehmen: „Anerkennung und Dank, insbesondere für die Erledigung der überaus schwierigen internen Fragen die sich vor Bekanntgabe des Rassegesetzes im Zirkel ergaben.”11. Auf der Website des OZ Köln war zu lesen: „Als der Magische Zirkel im Juni 1936 in die ‚Reichsfachschaft Artistik‘ eingegliedert wurde, forderte man die Ortszirkel auf, die jüdischen Mitglieder auszuschließen. In Köln war man dazu nicht bereit und löste den Ortszirkel auf. Doch man traf sich weiter regelmäßig in der Wohnung von Herrn Fuchs und pflegte den Kontakt zu anderen Ortszirkeln und den in Köln auftretenden Beruflern.”
Ist der MZ-Präsident Schreiber schuldig? Diese Frage stellt sich schnell, wenn man über die NS-Zeit redet. Und so geschah es auch bei dem Historiker- und Sammlertreffen 2012 in Appelhülsen. Sehr bald wurde nur noch über die Rolle und Schuld von Helmut Schreiber kontrovers diskutiert. Diese Diskussion lenkt m. E. bequem davon ab, dass alle Mitglieder des damaligen MZ im Sinn einer Kollektivschuld betroffen waren. Das ist Teil der Kollektivschuld, die das ganze deutsche Volk trifft. Aktiven Widerstand haben nur wenige Helden geleistet, die Mehrheit schwamm mit dem Strom und fand vieles auch gut.
Natürlich stellt sich die Frage, ob einzelne darüber hinaus individuell, im rechtlichen Sinn schuldig, kriminell geworden sind. Ich habe für Helmut Schreiber keine Beweise und Indizien dafür gefunden. Seine negativen und positiven Seiten zeigten sich bereits vor 1933. Er war geltungssüchtig und beweihräucherte sich. Er war auch ein Führungsmensch, ein Alphatier, wie die Verhaltensforscher sagen. Und er war ein Opportunist, der seinen Vorteil suchte. All das kann man als abstoßend, asozial und unmoralisch ablehnen, nur diese Haltungen sind nicht strafbar. Auch in unseren heutigen Gesellschaften zeigt ein erheblicher Anteil nicht nur der Führungskräfte solche Haltungen. Auf der positiven Seite ist für Schreiber ebenfalls viel zu vermerken. Seine charismatische Führung brachte neuen Wind in den MZ, und das begann bereits 1927 mit der Schriftleitung der MAGIE. Er öffnete den MZ und die MAGIE für die internationale Zauberwelt.
Schreiber konzipierte die bis dahin eher langweiligen Hauptversammlungen als „Weltkongresse” und „Olympiaden”. Dass er auch ein hervorragender Zauberkünstler war, bewies er nach 1945 mit seiner Zauberrevue. Trotz seiner Anbiederung an die Nazi-Führung gibt es keine Anzeichen, dass er ihre Politik und Ideologie teilte. Es gibt sehr ernstzunehmende Dokumente im Bundesarchiv, die bezeugen, dass Schreiber während der Nazi-Zeit Juden geholfen hat und sie beschützte. So bestätigt Ludwig Ficker, der für die KP im Untergrund arbeitete und nach 1945 der ersten bayerischen Staatsregierung als Staatssekretär angehörte, dass Schreiber ihn während seines illegalen Aufenthaltes in München unterstützt habe.12 Elfriede Elkisch, die mit einem Juden verheiratet war und als Sekretärin des MZ beschäftigt war, erklärte 1946 eidesstattlich „kann ich mit bestem Gewissen bestätigen, dass Herr Schreiber die Nazis hasste und meine Gesinnung sowie die meiner jüdischen Familie vollkommen teilte. Nicht nur, dass er sich in der Unterhaltung als Nazigegner bekannte, sondern er hat mich und meine Familie mit Geld und Lebensmitteln unterstützt, weil er wusste, dass ich außerdem eine illegal bei Freunden versteckte jüdische Verwandte, die keine Lebensmittelkarte hatte, mitversorgen half.”13
Ich kann nur die Bewertung bestätigen, die Hannes Höller 1999 formulierte: „Schreiber war zweifelsohne kein Nazi. 1936 war er nicht Mitglied der Partei und mit Sicherheit kein Antisemit. Aber er hatte Einfluss und einen unstillbaren Karrierehunger. Er war eine umstrittene Persönlichkeit. Er war ein Opportunist”14 Höller schrieb das als Fazit in seiner Arbeit über europäische jüdische Zauberer. Die Arbeit war ein erster Versuch der Aufarbeitung. Auch der MZ Köln berichtete auf seiner Website von seiner Verweigerung 1936, leider ist dieser Text jetzt gelöscht. 2009 und 2010 ließ der MZ Berlin Stolpersteine verlegen. 2013 beteiligt er sich aktiv mit Beiträgen am Berliner Gedenkjahr (1933 und 1938)15. Der MZvD insgesamt hat einen Nachholbedarf. Bis heute wird diese Zeit in der Internet-Chronik des MZvD verharmlosend dargestellt.
Die 2012 in Appelhülsen tagenden Historiker waren sich mit Eberhard Riese einig, diese Ereignisse weiter aufzuarbeiten, die OZs um Mitarbeit zu bitten und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Sie taten dies im Sinn von Karl Schröder, der 1949 schrieb: „Hitlers Sieg (hätte) die Vernichtung aller Menschlichkeit und aller vernünftiger Weiterentwicklung bedeutet.”16
- Aus der Rede von P. Schuster bei der Verlegung der Stolpersteine für die Familie Kroner am 6.3.2009 in der Friedrichstr. 55. Der Stolperstein für Günther Dammann wurde am 4.10.2010 in der Wissmannstr. 17 verlegt.
- „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” vom 7. 4.1933
- Die Reichsfachschaft Artistik gehörte über die Reichstheaterkammer zur Reichskulturkammer
- MAGIE 1936, Heft 7, S.121
- MAGIE 1938, Heft 10?–?11, S.361
- Dieter Waldmann: Die Zeitschrift MAGIE in der NS-Zeit – ein Beitrag zur Person des Schriftleiters Helmut Schreiber. Hamburg 2003, 27 Seiten
- In der MAGIE 1936, Heft 6, S.112 wird die Aufnahme eines Mitglieds mit der Nr.1373 gemeldet
- Mitgliedsbuch des MZ, 1. Auflage 1936, Seite 81
- Berliner Adressbuch 1938, S.644
- MAGIE 1938, Heft 9, S.316 und Heft 12, S.378
- MAGIE 1935, Heft 11, S.158
- Bundesarchiv, Akte Helmut Schreiber, Dok. 0334
- Eidesstattliche Versicherung vom 6.12.1946. Bundesarchiv, Akte H. Schreiber, Dok. 0378
- Hannes Höller: European Jewish Magicians 1933?–?1945. Düsseldorf, Höller 1999, S.78
- Aktivitäten des Berliner Themenjahrs 2013 „Zerstörte Vielfalt”, www.berlin.de/2013/themenjahr
- Karl Schröder, der Gründer des MZ, in einem Brief vom 30.1.1949 an Willy ... (?)